Unsortierte Gedanken – Juni 2025 – LitRPG, Kinder des Rock‘n‘Roll, Sams-Franchise

Seit ich entschieden habe, im September nach mehreren Jahren mal wieder auf ein LARP zu fahren, habe ich mich wieder mehr mit Rollenspielen beschäftigt und bin dabei auf ein interessantes Rabbithole gestoßen: das Literaturgenre „LitRPG/Progression Fantasy“. Es ist noch relativ jung (10-15 Jahre), lebt besonders auf Self-Publishing-Seiten wie Royal Road und scheint mir eine logische Fortsetzung von ergodischer Literatur wie den Choose-your-own-adventure und Fighting-Fantasy-Büchern zu sein, in die ich vor ein paar Jahren wieder eingetaucht war. 

LitRPG (Literary Role Playing Games) oder Progression Fantasy zu lesen, fühlt sich an, als würde man einer anderen Person beim Videospielen zusehen. Die Bücher speisen sich aus Videospiel-Logiken und haben Protagonisten, die gewollt oder ungewollt in diesen Logiken gefangen sind – also im Spiel vorankommen müssen (daher: Progression), damit es weitergeht (einer der Vorläufer-Texte ist natürlich Ready Player One). Manche Handlungen haben sogar knallhart Videospiel Stats und Skill Trees, die sich im Laufe der Handlung weiterentwickeln. Die Bücher sind in der Regel stark auf Serialität angelegt. 

Die Fanszene rund um LitRPGs ist alles andere als klein, die populäre Buchreihe Dungeon Crawler Carl wird demnächst als Fernsehserie adaptiert. Trotzdem ist das Genre noch eine ziemliche Nische. Ich habe ein paar populäre Titel angelesen und war so fasziniert wie irritiert. Die Spiele-Logik entfaltet sofort einen Sog, weil man wissen will, wie es weitergeht. Gleichzeitig empfinde ich es als enorm frustrierend Protagonisten dabei „zuzusehen“, wie sie ständig Rätsel lösen müssen, aber nicht selbst eingreifen zu können wie bei den oben erwähnten „Du bist selbst der Held“-Büchern. (Ich gebe an dieser Stelle gerne zu, dass ich auch „Actual Play“ Rollenspiel-Videos ziemlich langweilig finde.)

Nichtsdestotrotz: Es ist spannend zu sehen, wie hier auf ganz andere Art als zuvor Spiel und Literstur aufeinandertreffen, und ich glaube, dass diese Art von gamifizierten Geschichten noch viel kommerzielles Potenzial haben. Könnte eigentlich auch ganz gut als Podcast funktionieren. 

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Magda Birkmann hat vor kurzem auf BlueSky angemerkt, dass sie alt genug ist, um die Originaltitelmusik der Serie Die Kinder vom Süderhof zu kennen, die früher im Tigerentenclub lief. Was mich dazu bewegte anzumerken, dass ich sogar noch das Originallied kenne, von dem der Süderhof-Song adaptiert wurde. Es heißt „Die Kinder des Rock‘n‘Roll“ und war auf dem Album Starke Kinder von Rolf und seinen Freunden, das ich als Kind als MC besaß. 

Im Lied geht es darum, dass die Eltern der besungenen Kinder mit dem Rock‘n‘Roll der 50er und 60er aufgewachsen sind („Die Rolling Stones war‘n für die heißen langen Nächte gut“) und sie deswegen sein Vermächtnis weitertragen werden („Der Rock‘n‘Roll lebt weiter, denn wir haben ihn im Blut“). Starke Kinder erschien 1989 – die Zeit, die mir damals schon ewig weit weg vorkam, war also bei Veröffentlichung des Songs weniger weit weg, als der Song von heute aus gesehen zurückliegt. 

Ich weiß, dass „Die Millennials werden alt“ inzwischen längst ein Meme ist, aber es ist schon immer wieder schräg, dass man tatsächlich erst selbst älter werden muss, um überhaupt ein Gefühl für solche Zeiträume zu bekommen. Wenn ich meinem Kind heute also Songs aus den 90ern vorspiele und es zu „Coco Jamboo“ und „Wannabe“ durchs Wohnzimmer tanzt, ist das wirklich das gleiche, wie damals, als mein Vater mir Beatles-Platten ans Herz legte. Obwohl es sich ganz anders anfühlt. (Eventuell auch, weil ich ein deutlich größerer Musiknerd bin als mein Vater, der zur Musik seiner Eltern, soweit ich weiß, keine große Beziehung hatte.)

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Im immer noch relativ neuen Literaturpodcast „Gelesen.“ von meinem Freund und alten „Kulturindustrie“-Kollegen Lucas Barwenczik, ging es vor kurzem mit Co-Host Fynn Benkert über die eigene Lesesozialisation. Lucas erwähnt dort, dass er etwas schockiert war, als Paul Maar im vierten „Sams“-Band „Ein Sams für Martin Taschenbier“ von 1996 plötzlich die bis dahin relativ lineare zeitliche Abfolge der Bücher verlässt und etwa 10 Jahre in die Zukunft springt, zum Sohn des ursprünglichen Protagonisten, der dann ebenfalls Besuch vom Sams bekommt. 

Ich erinnere mich, dass es mir damals ähnlich ging, aber aus heutiger Sicht finde ich den Schritt nachvollziehbar. Das erste Sams-Buch erschien 1979. Die Geschichte seiner Hauptfigur, des schüchternen Buchhalters Bruno Taschenbier, war zum Ende des dritten Bandes endgültig auserzählt – er hatte sein Gleichgewicht (natürlich in einer heterosexuellen Beziehung) gefunden und das Sams hatte sich deswegen verabschiedet. Somit erreichten die Sams-Romane den Punkt jedes erfolgreichen, langlebigen Franchises, dass der Geschichte in ihrer Fortsetzung irgendwie ein neuer Drall gegeben werden musste (ganz abgesehen davon, dass das Setting an die fortgeschrittene Zeit angepasst werden musste.)

„Ein Sams für Martin Taschenbier“ war der letzte Sams-Band, den ich gelesen habe, aber mein Kind entdeckt die Sams-Geschichten gerade und ich musste mit Erstaunen feststellen, dass die Marvel-Universifizierung der Sams-Bücher in der Zwischenzeit nur noch weiter vorangeschritten ist. Seit 1996 erschienene Sams-Bände spielen unter anderem in alternativen Timelines und zuvor nicht ausgefüllten Lücken der Ursprungs-Story, genau wie wir es aus Comics und mittlerweile auch Film-Franchises inzwischen reihenweise kennen. 

Wenn fiktionale Universen über Jahrzehnte fortbestehen, ist es doch kurios, dass viele von ihnen irgendwann an diesem Punkt landen. Die einzige Alternative scheint zu sein, eine „Illusion of Change“ zu erhalten, in der die Charaktere einfach dauerhaft in der gleichen Lebenssituation gefangen sind – wie etwa bei den „Simpsons“ oder „Bibi und Tina“. 

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Ich hoffe, in Zukunft öfter solche kleineren Gedanken und Beobachtungen hier im Blog festzuhalten.

New Work, Powered by the Apocalypse

Ich spiele Rollenspiele (TTRPGs) seit ich Kind bin. Seit einigen Jahren tue ich das nicht mehr regelmäßig, aber ich versuche, mich auf dem Laufenden zu halten und neue Entwicklungen zu verfolgen. Ich finde es interessant, wie sich diese Form des gamifizierten gemeinsamen Geschichtenerzählens seit ihren Ursprüngen in den 1970er Jahren stetig weiterentwickelt.

Dabei sehe ich auch Parallelen zur Arbeitswelt. In den 90ern, als ich angefangen habe, hieß die Spielleitung noch “Game Master” oder “Meister”. Die Spieler:innen waren ihrem Spielstil und ihren Launen für die Gestaltung des Spiels ausgeliefert. Im schlimmsten Fall zogen sie in unterschiedliche Richtungen und spielten teilweise sogar gegeneinander – was im Rollenspiel eigentlich nie das Ziel sein sollte.

Ein neueres System aus den 2010er Jahren, mit dem ich mich gerade beschäftige, klingt da ganz anders. Die Spielleitung heißt jetzt “Master of Ceremonies” (MC), im Regelwerk ist immer wieder von den unterschiedlichen Verantwortungen von MC und Spieler:innen die Rede. “Be a fan of your players” steht da. Umgekehrt haben die Spieler:innen die Aufgabe, dem MC anzuzeigen, welche Dinge ihnen wichtig sind (“Flags”). Ein zentrales Spielelement sind “Directives”, die Ausgestaltungsmöglichkeiten der Story vorgeben. Erfahrungspunkte sammelt man auch dann, wenn die Mission fehlschlägt.

Das erinnert mich doch alles sehr an diverse New-Work-Ideen. Verantwortungs- und visionsgetrieben gemeinsam an einer größeren Geschichte arbeiten. Bedenklich finde ich nur, wie das System heißt, das 2010 für das Spiel “Apocalypse World” entwickelt wurde: “Powered by the Apocalypse“. Andererseits, im Spätkapitalismus vielleicht auch passend?

(zuerst auf LinkedIn veröffentlicht)

Höreindrücke: War da was?, The German Wiedergutmachung, OZ, Der Sophie Passmann Podcast

In den letzten Wochen haben sich bei mir mal wieder einige Höreindrücke angesammelt, es wird also Zeit für einen neuen Post.

War da was? (Zeit Online)

Diesen Podcast habe ich für LÄUFT besprochen, als er noch recht frisch war. Inzwischen habe ich fast alle Folgen gehört. Ich applaudiere der Innovation, zwei sehr unterschiedliche Formate, die sich ergänzen (lange Interviews und kurze Chroniken), in den gleichen Feed zu packen. Ich fand die Fach-Interviews und die thematisch ausgerichteten Chronikfolgen am besten, die “menschlichen” Interviews hatten mir manchmal zu viel Nähe und taugten oft auch nur bedingt als Fallstudien. Die Sound- und Schnittqualität war zudem insgesamt sehr durchwachsen – und den flapsigen Titel finde ich nach wie vor nicht gut.

The German Wiedergutmachung (Bundesarchiv)

Hier bleibe ich bei meinem Urteil aus LÄUFT Folge 59. Ein lohnenswertes und informatives Projekt, gut umgesetzt, das ein klein bisschen weniger Abstraktion vertragen hätte. Als jemand, der selbst oft in staatlich finanzierten Kontexten arbeitet, meine ich, das Knarzen der Vorgaben und Abnahmeschleifen öfter gehört zu haben, vor allem in der Sprache. Selbst bei einem guten Podcast wie diesem zeigt sich also: Es ist immer ein Unterschied, ob man einem journalistischen Impetus folgt, oder für die eigene Arbeit werben will.

OZ. Graffiti-Künstler. Schmierfink. Rebell. (ARD Kultur u.a.)

Ich plädiere bei jeder Gelegenheit für weniger Formatierung und mehr Autor:innen-Stil auch in Storytelling-Formaten, und das war hier definitiv spürbar, in Ansprache und Aufbau genau wie in Sound-Design und Musik. Mir persönlich war das Erzähltempo zu langsam und das Sujet, die Hintergrundgeschichte des Hamburger Graffiti-Künstlers OZ, nicht spannend genug, um mich länger zu fesseln. Die Inhalte hätte ich lieber in einem kompakteren Radiofeature vermittelt bekommen (das es auch gab, aber das ich nicht gehört habe).

Der Sophie Passmann Podcast (Studio Bummens)

Auf die Gefahr hin, wie ein Papagei zu klingen, feiere ich auch hier den Mut zum (nicht neuen aber noch immer seltenen) Format. 50 Minuten in Sophie Passmanns Stream of Consciousness zu verbringen, sogar ohne Intromusik, finde ich gut – es ist quasi die reinste Form des Podcastens. Ob man das, was Sophie Passmann sagt, besonders interessant findet, hängt dann aber logischerweise auch stark davon ab, wie interessant man Sophie Passmann findet. Und hier habe ich festgestellt, dass ich nicht zur Kernzielgruppe gehöre.

Die “Höreindrücke” sind eine unregelmäßig erscheinende Kolumne über neue Podcasts, von denen ich in der Regel zwei bis drei Folgen gehört habe.

Der Denkfehler, den wir bei Sternewertungen machen

Zum Anfang: zwei Anekdoten.

Erste Anekdote: Vor langer. langer Zeit, in den Anfangstagen von eBay, nutzte ich die Plattform ab und zu, um mir gebrauchte CDs zu kaufen. Die ersten paar CDs, die ich dort schoss, wurden alle von Privatpersonen angeboten, und ich, der ich gerade auch angefangen hatte, in Mailinglisten und Foren aktiv zu werden, liebte den Gedanken, wildfremden Menschen anderswo in der Republik die Dinge abzukaufen, die sie nicht mehr brauchten, und dadurch kurz eine Verbindung mit ihnen einzugehen. Ich fand diese Möglichkeit einfach großartig.

Meine dritte oder vierte CD kaufte ich dann von einem Anbieter, der eBay bereits als kommerzielle Plattform nutzte. Die CD war voll okay, aber die Magie war verschwunden. Deswegen gab ich in der Sternewertung nach Ende der Transaktion am Ende einen Stern weniger und kommentierte “unpersönliches Massengeschäft”. “Was für ein Spinner”, kommentierte die Gegenseite zurück, “Internet ist nunmal unpersönlich.”

Ein Missverständnis auf vielen Ebenen. Zum Beispiel zur Vision des Internets. Aber vor allem: Ein Missverständnis über den Zweck von Sternewertungen.

Wie lauwarm darf es sein?

Zweite Anekdote: Der Drehbuch- und Kinderbuchautor John August, im Internet vor allem bekannt als einer der zwei Hosts des Podcasts “Scriptnotes”, twitterte vor einigen Jahren, nachdem sein erstes Buch erschienen war, dass er nicht kapiere, warum Leute Büchern auf Bewertungsplattformen wie Amazon oder Goodreads (also auch Amazon) zwei Sterne geben würden. Für ihn als Autoren würde sich das wie Hohn anfühlen. Es wäre ja okay, wenn man ein Buch nicht möge, aber dann könnte man ja entweder einen Stern geben oder, noch besser, das Buch einfach nicht bewerten. Aber zwei Sterne wären so lauwarm, dass doch niemand sonst etwas damit anfangen könne.

Und erneut würde ich sagen: August sitzt einem fundamentalen Missverständnis darüber auf, was der Zweck von Sternewertungen ist. Für die, die sie verteilen, und für die, die sie empfangen.

Sternewertungen, also: das Bewerten eines Produkts oder einer Dienstleistung auf einer Skala von (meistens fünf, oft zehn (vor allem, wenn es auch halbe gibt)) Sternen, gehören inzwischen fest zum Repertoire der User Experiences im Internet. Von Podcast-Hosts bis Rideshare-Fahrern bitten alle darum, dass man ihnen fünf Sterne dalässt, und für jedes Stück Kultur, was man konsumiert, kann man anschließend eine Bewertung auf einer Plattform seiner Wahl loggen. 

★★★★★ Meisterwerk

Gerade letzteres ist nicht bei allen Menschen gleich beliebt. Ich kenne zum Beispiel mehrere Filmliebhaber, die sich weigern, auf dem Film-Netzwerk Letterboxd Sterne zu hinterlassen, weil sie ihren Kulturgenuss nicht auf diese Art einer kapitalistischen Wettkampf-Logik unterwerfen wollen. Film X hat mehr Sterne als Film Y, deswegen ist Film X besser? Das wäre ja Quatsch, denn Qualität ist viel komplexer und lässt sich nicht auf einer Punkteskala messen. Andere Nutzer:innen erklären ihre Sternewertungen gerne in ihrem Profil, weil sie doch ein sehr starkes Bedürfnis zu haben scheinen, ihre Bewertungen so präzise zu systematisieren wie möglich. Die maximale Sternezahl ist hier oft gleichbedeutend mit einem Etikett wie “Meisterwerk”. 

Was das Bewerten von Qualität angeht, neige ich der ersten Gruppe zu. Und trotzdem verteile ich gerne Sterne. Denn was ich bewerte, ist nie das Buch oder der Film selbst, sondern seine Wirkung auf mich. Ich bewerte meine persönliche Erfahrung beim Lesen oder Schauen. Hat der Film für mich funktioniert? Hat das Buch mich bewegt? Fand ich es spannend, lustig oder anders emotional berührend? Ich habe vor über 20 Jahren ebenfalls mal Labels an meine Punkteskala geschrieben, und bei mir war die maximale Punktzahl gleichbedeutend mit dem Satz “Haut mich total aus den Socken”.

Diese Bewertung ist wichtig für mich, vor allem, wenn ich mich später erinnern will, wie meine Seh- oder Leseerfahrung war. Vor allem bei Filmen ist es interessant zu sehen, ob sich meine Wahrnehmung ändert, wenn ich einen Film erneut sehe. (Oft ist sie auch über Jahre erstaunlich konstant.) Wichtig ist aber: Die Wertung gebe ich für mich selbst ab. Sie ist wie Tagebuch schreiben. Vielleicht ist sie noch relevant für andere Menschen, mit denen ich verbunden bin, die mich und meinen Geschmack kennen, und die es deswegen interessiert, wie ich etwas fand. Aber eins sind meine Sterne ganz sicher nicht: Eine Feedback-Transaktion gegenüber den Personen, die das Stück Kultur, das ich bewertet habe, verantwortet haben.

I really liked it

Goodreads hat bei seinen Sternewertungen kleine Textlabels beigefügt, die diese Lesart eigentlich unterstützen. Sie reichen von “did not like it” (ein Stern) über “it was okay” (zwei Sterne) und “liked it” (drei Sterne) bis zu “really liked it” (vier Sterne) und “it was amazing” (fünf Sterne). Im Zentrum steht also die Erfahrung der Leserin, nicht eine wie auch immer geartete objektive Qualität des Buchs. Wenn ich also einem Buch zwei Sterne gebe, sage ich damit: Ich fand es in Ordnung. Es hat mir nicht aktiv Unbehagen bereitet, aber ich würde auch nicht so weit gehen, zu sagen, dass ich es mochte. Das bedeutet auch: Wenn ich viele Bücher lese, sind die meisten vermutlich Kandidaten für drei Sterne. Man kann ja nicht alles super finden.

Komplett anders ist es bei Sternewertungen für Dienstleistungen, von Taxifahrten bis zu Käufen im Internet. Die Skala sieht identisch aus und sie bewertet sogar genauso die Erfahrung, aber sie ist komplett anders geeicht. Hier sind nicht drei Sterne der Standard, aus dem es auszubrechen gilt, sondern fünf. Fünf Sterne bedeutet: Alles war gut, es lief wie geplant, keine Beanstandungen. Man gibt also standardmäßig fünf Sterne und zieht nur etwas ab, wenn man unangenehme Erfahrungen macht. Ein direktes Feedback an die Dienstleistungserbringerin, die dieses Feedback wiederum als Währung benutzt, um bei anderen Kunden um Vertrauen zu werben: Hier werdet ihr nicht betrogen.

Der Autor Django Wexler hat mich in einem Twitter-Thread erstmals auf die unterschiedliche Eichung dieser gleich aussehenden Sterneskalen aufmerksam gemacht, und ich finde, sie ist der Schlüssel zu vielen Konflikten. Die nämlich entstehen, wenn die beiden Eichungen durcheinandergeraten.

Kunst ist keine Taxifahrt

Wenn ich zum Beispiel, wie in meinem eBay-Beispiel, der Meinung bin, dass es fünf Sterne nur für Transaktionen geben sollte, die für mich über einen erfolgreichen, reibungslosen Kauf hinausgehen, und mir auch noch einen flüchtigen, persönlichen Kontakt mit einem Fremden ermöglichen, dann lege ich an einen eBay-Kauf die gleichen Maßstäbe an, wie an eine kulturelle Erfahrung. Dort würde ich fünf Sterne eben nur an ein Werk vergeben, das mich wirklich nachhaltig beeindruckt hat. Ähnlich wie bei Trinkgeld oder anderen Service-Transaktionen gibt es sicher Menschen, deren Motto ist: Bei mir bekommt man standardmäßig vier Sterne, fünf gibt es nur für Erfahrungen, die über das gewohnte Maß hinausgehen. (Siehe auch: Lehrer:innen, die keine Einser vergeben.)

Der umgekehrte Fall birgt aber ebenfalls einen Konflikt. Denn ich habe einen Aspekt bisher ausgelassen: Es mag zwar für mich so sein, dass ich meine Sternebewertungen bei Büchern oder Filmen als nicht-transaktionell und rein tagebuchmäßig, eventuell noch als Diskussionsansatz für Peers betrachte. Für viele Kunstschaffende ist das aber nicht der Fall. Gerade bei Goodreads, wo auch viele Autor:innen selbst vertreten sind, sind positive Sternewertungen durchaus eine Währung, auf die sie verweisen können. Wenn ihr jüngstes Buch also im Durchschnitt drei Sterne bekommen hat (das heißt: viele Leute sagten “Ich mochte es”), ist das für sie eventuell nicht ausreichend, um als Pfund bei den Verhandlungen um den nächsten Vertrag zu gelten. Sie wünschen sich, ähnlich wie ein eBay-Händler, fünf Sterne als Ausdruck von: Alles perfekt, nichts ändern. Lauwarme Durchschnittsbewertungen bringen ihnen nichts, ähnlich wie John August es in meinem Beispiel oben formuliert hat.

Ich bin trotzdem nicht der Meinung, dass ich als Sterne vergebender Kritiker, egal ob professionell oder laienhaft, mich diesem transaktionellen Modell nicht beugen sollte. Der Kapitalismus und seine kompetitive Struktur sind Teil des Kulturbetriebs. Das wird sich auch nicht ändern. Aber Kunst ist keine Taxifahrt. Kultur Erfahrende sollten für ihre Bewertung dieser Erfahrung weiterhin eine Eichung anlegen, die sich auf ihr persönliches Empfinden bezieht. Nicht auf eine Abweichung von einem zufriedenstellenden Fünf-Sterne-Standard. Nicht im Hinblick auf einen aggregierten “Score”.  Diesem Denkfehler sollten wir nicht erliegen. Sonst haben wir uns tatsächlich der kapitalistischen Logik unterworfen, die viele bereits im Akt der Sternevergabe erkennen.

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Raum und Flow

Vor rund zehn Jahren, als das Second Coming von 3-D im Kino gerade abflaute und das Second Coming von VR durch Facebooks Kauf von Oculus gerade in vollem Lauf war, war ich für eine kurze Zeit neu begeistert vom Konzept des endlosen filmischen Tiefenraums. Ich hatte mich lange schon gefragt, warum so wenige Filme im digitalen Zeitalter die Möglichkeit nutzten, die Zuschauenden mit auf eine Reise in ihren Raum zu nehmen.

Immer wieder sah ich Versuche, mit dem Gedanken eines dreidimensionalen Raums und einer wahrhaft entfesselten Kamera im Kino zu arbeiten, die ich jedes Mal faszinierend fand, egal ob in Gravity (2013) oder in der Eröffnungssequenz von The Revenant (2015). Selbst in den wenigen VR-Experiences, die ich erlebt hatte, war das Gefühl, tatsächlich einen Raum zu erleben, in dem Ereignisse stattfanden, um die man herumfließen konnte, wie in einem Open World Videospiel oder einem immersiven Theaterstück, extrem selten. Stattdessen regierte durch die Bank extrem konventionelle filmische Raumauflösung durch Montage und “digitaler Realismus“, selbst in vollständig im Computer entstandenen Filmen, was ich immer extrem schade fand.

Zu meiner großen und unerwarteten Begeisterung habe ich am Wochenende im Kino die beste Umsetzung meines Wunsches seit vielen Jahren erlebt, im lettischen Oscar-Gewinner Flow, einem mit der Open-Source-Software Blender gestalteten, dialoglosen Animationsfilm über eine Katze in einer südostasiatischen Landschaft, die langsam überflutet wird. “Flow”, das scheint sich natürlich auf den Fluss des Wassers und des Lebens zu beziehen, aber es könnte auch genauso die Kamera- und Raumarbeit des Films bezeichnen, die von einer erdrückenden Schönheit und Stringenz ist. Gints Zilbalodis’ Kamera schwebt leicht schaukelnd in langen Sequenzen neben seinen tierischen Protagonisten her, mal schneller, mal langsamer, stößt unter Wasser, nur um kurz darauf wieder in Vogelflug-Höhen aufzusteigen. Und warum? Weil sie es kann! Diese Art der Bildgestaltung gibt dem Film einen magischen Rhythmus, der den sense of wonder, der Flow als Leitmotiv ebenfalls durchströmt, noch verstärkt. Danke, Gints Zilbalodis! Der Rest darf sich gerne ein Beispiel daran nehmen.

Höreindrücke: Berlin Code, Our Ancestors Were Messy, Durchgefallen, SWF3 – Das Phänomen

Berlin Code (ARD)

Wie in Folge 54 von LÄUFT besprochen, klang “Berlin Code” für mich nach den ersten Folgen ein bisschen zu sehr wie “Hauptstadtjournalismus: Der Podcast”, mit allem, was das so mit sich bringt. Mein Eindruck: Er konnte sich nicht entscheiden, wo er den Schwerpunkt setzen will (Meinung, Information, Gossip, Analyse), aber das halte ich für ein typisches Findungsproblem neuer Gesprächspodcasts – der “Über Podcast” kam vor zwei Wochen zu einem ähnlichen Ergebnis. Ich schließe nicht aus, dass das schon jetzt besser geworden ist.

Our Ancestors Were Messy (Indie)

So viele gute Ideen in einem Projekt. Black History, vermittelt durch die Klatschkolumnen der Zeit nach dem Bürgerkrieg, in einem Dialog zwischen perfekt vorbereiteter Host und schlagfertiger Gästin. So viele verschiedene Reflexionsebenen, historisch wie aktuell, die auf wirklich tolle Art aufeinandertreffen. Und das ganze völlig unabhängig gestemmt. Respekt!

Durchgefallen (SWR)

In diesem Podcast fallen meine zwei beruflichen Welten zusammen, weswegen ich in seiner Bewertung ganz sicher nicht unabhängig bin. Aber ich finde, Lisa Graf hat die aktuelle Situation im Schulsystem in fünf Folgen sehr gut und kompakt zusammengefasst, und ich würde diesen Podcast allen Eltern von Schulkindern sehr ans Herz legen. Was mir aufgrund meines Backgrounds am Ende fehlte, war ein Ausblick auf mögliche Lösungen für die systemischen Probleme jenseits des Startchancen-Programms. Vielleicht etwas für die Fortsetzung?

SWF3 – Das Phänomen (Indie)

Eins meiner Seifenkisten-Themen ist ja die Nützlichkeit von Podcasts als mündliches Archiv, und ich finde es super, dass Gregor Glöckner sich dieser Aufgabe für den Radiosender SWF3 (für dessen heiße Phase ich etwas zu jung bin) angenommen hat. Ohne viel redaktionellen Schnickschnack drumherum, einfach in einer ausführlichen Sammlung von Interviews mit den damals Beteiligten konserviert er so die Erinnerungen an eine mediale Entwicklung. Das ist natürlich schrecklich nischig, aber es zeigt, was Podcasts alles leisten können.

Die “Höreindrücke” sind eine unregelmäßig erscheinende Kolumne über neue Podcasts, von denen ich in der Regel zwei bis drei Folgen gehört habe.

Growing Up Nerd

In wenigen Tagen werde ich 42 Jahre alt. Ich habe mich entschieden, diesen Geburtstag endlich mal wieder groß zu feiern. Nicht nur, weil ich meinen runden 40. Geburtstag nicht feiern konnte, da damals immer noch zu viel Pandemie herrschte. Sondern natürlich auch, weil 42 eine besondere Zahl ist. Wer, wie ich, eine ganz bestimmte Art von Sozialisation genossen hat, weiß sofort, warum. Die Zahl 42 spielt in Douglas Adams’ Roman The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy eine zentrale Rolle.

Im Roman baut ein Volk auf einem entfernten Planeten einen gigantischen Computer namens Deep Thought, den es daran setzt, die Antwort auf die entscheidende Frage nach dem Leben, dem Universum und Allem herauszufinden. Deep Thought rechnet über Zeitalter und Generationen und rückt irgendwann mit der Antwort heraus – auch wenn er vorher sagt: “Ihr werdet sie nicht mögen.” Sie lautet “42”, aber Deep Thought hat dafür so lange gebraucht, dass die eigentliche Frage in Vergessenheit geraten ist. Also baut das Volk einen neuen Computer, der die Frage herausfinden soll. Dieser Computer, so stellt sich heraus, ist unsere Erde.

Diese ganze Hintergrundgeschichte aus dem Buch dürfte den meisten Menschen nicht auf der Zunge liegen. Auch ich musste sie nochmal nachlesen. Übrig geblieben ist meist nur, ähnlich wie bei Deep Thought selbst, dass “42” die entscheidende Zahl ist. Die Antwort. Gerne mal formuliert auch als “Die Antwort auf alle Fragen”, was nicht stimmt. “42” ist also in der Sozialisation, die ich eben erwähnt habe, eine Art Meme gewesen, bevor der Begriff in breitem Gebrauch war. Und sein Ursprung, Per Anhalter durch die Galaxis, gehört zu einer kleinen Gesellschaft an Ur-Texten für diese Sozialisation. Und damit meine ich natürlich die Sozialisation als Nerd.

Ich “gönne” mir in meinem Blog immer mal wieder, zu meinem Geburtstag, einen Text, der von mir selbst handelt, und in dem ich meine eigenen kulturellen und medialen Gewohnheiten aufschreibe und reflektiere. Vor zwei Jahren, zum Beispiel, zum 40., habe ich 40 Kulturerzeugnisse aufgelistet, die mich geprägt haben. Adams’ Roman ist nicht darunter, hätte es aber gut sein können. Ich habe ihn als etwa 10-Jähriger von einem einige Jahre älteren Freund empfohlen bekommen, der Informatik studierte. Einen prägenden Eindruck hat er nicht hinterlassen. Aber die Lektüre war entscheidend, um mich dem Nerd-Kosmos zugehörig zu fühlen.

Coming of Age

Ich bin 1983 geboren. Das heißt: Ich bin, wenn man nach generationellen Zuschreibungen geht, ein “alter Millennial” oder sogar ein “X-Ennial”, also auf der Grenze zwischen Generation X und Millennials. Was das für mich vor allem bedeutet, ist: Ich habe meine frühe Kindheit in den 80ern verbracht, hatte mein “Coming of Age” in den 90ern, und bin mit dem Ende des Jahrtausends erwachsen geworden. Ich kenne eine Welt ohne eigenen Computer (meine Familie gehörte nicht zu denen, die früh Commodores zu Hause hatten), eine Welt mit Computern, aber ohne weit verbreitetes Internet, und eine Welt mit Internet zu Hause – alles in derselben Kindheit und Jugend.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuerst mit dem Begriff des Nerd und der dazugehörigen Kultur in Verbindung gekommen bin, aber es muss ungefähr um die Zeit gewesen sein, als ich Per Anhalter durch die Galaxis gelesen habe. Um die gleiche Zeit bin ich von einem vagen Interesse für phantastische Geschichten in meiner Kindheit, wie Michael Endes Die unendliche Geschichte oder den Narnia-Romanen von C. S. Lewis, zu einer konzentrierten Leidenschaft für Fantasy und Science-Fiction als definiertes Genre umgeschwenkt. 

Angefangen natürlich mit Tolkiens Der Herr der Ringe, aber bald in allen seinen Ausprägungen, über die ich hier im Blog auch schon öfter geschrieben habe. Parallel dazu fing ich an, selbst in QBASIC zu programmieren (meistens Textadventure) und irgendwann meine ersten Websites zu bauen und dafür HTML zu lernen. Und irgendwann in dieser Zeit begann ich, mich selbst als Nerd zu identifizieren.

Ich will den Begriff an dieser Stelle nicht herleiten, sondern nur kurz beschreiben, was ich darunter verstand: Ein Nerd war für mich jemand, der sich für Nischenthemen interessiert, die in der Gesellschaft gemeinhin nicht als “relevant” oder “beliebt” wahrgenommen waren. Das waren für mich eben Phantastik und Computer. Ich war gut in der Schule, aber nicht gut in Sport. Ich fand, dass ich nicht gut aussah, hielt mich aber für sehr intelligent. Ich machte Witze über Microsoft Windows und wiederholte Zitate aus Das Leben des Brian.

Bestätigende Literatur

Zu dieser Selbstidentifikation gab es genug bestätigende Literatur. Für mich war hier vor allem die Zeitschrift InQuest prägend, in der es primär um Karten- und Rollenspiele ging, aber auch um alles andere, aus dem sich die Nerdkultur zu dieser Zeit speiste. In den Seiten von InQuest, würde ich heute sagen, habe ich Nerd-Selbstverständnis absorbiert: der selbstreferentielle Humor, das Hochhalten von arkanem Wissen, aber auch die Obsession mit dem Ranking von Kulturerzeugnissen: das Festlegen darauf, was in einer bestimmten Kategorie das “Beste” ist und das pseudo-wissenschaftliche Überführen von Meinungen in Statistiken (siehe auch: Computerspiele-Zeitschriften aus der gleichen Zeit). 

Was auch dazu gehörte: Jede Menge Misogynie. Nerdkultur war, ohne dass ich darüber nachdachte, ein fast ausschließlich weißer, männlicher Raum, der einem weißen, männlichen Kulturkanon huldigte. Frauen kamen vor, aber nur in einem sehr begrenzten Rollenspektrum: Als fernes Objekt der Begierde, als ultrakompetente Amazonen-Projektion oder als “one of the guys” Cool Girl, das gar nicht so richtig als weibliches Wesen zählte.

Das Absurde an meinem Selbstbild aus dieser Zeit ist, dass es eigentlich hinten und vorne nicht stimmte. Ich mag ein unsportlicher Junge mit schiefer Frisur und Nischeninteressen gewesen sein, aber ich war halt auch erst 13 Jahre alt. Ich war extrovertiert und hatte viele Freunde aus allen typischen Schulclans, darunter auch immer viele Mädchen. Ich habe kurze Zeit später angefangen, Theater zu spielen. Ich hatte mit 15 meine erste Freundin. Ich habe irgendwann Metal gehört, aber auch viel populäre Mainstream-Musik. Ich habe einige Jahre später viel im Internet mit anderen Leuten rumgehangen, die sich auch für Nischenthemen interessiert haben, aber ich war auch regelmäßig auf Partys, habe Alkohol getrunken und geraucht. In der 10. Klasse wurde ich zum Klassensprecher gewählt.

Ich will damit auf gar keinen Fall sagen, dass meine Erfahrung typisch ist. Ich hatte einige Freunde, die sozial scheuer waren als ich, die sich nicht so einfach in alle möglichen Gruppen integrieren konnten, die vielleicht dick oder anders äußerlich als “konventionell unattraktiv” markiert waren, und die entsprechend nicht so eine ausgelassene Teenagerzeit hatten, wie ich (was ich aber nicht sicher weiß). Entscheidend finde ich, als wie sticky sich trotzdem das Selbstverständnis vom Nerd, vom sozialen Außenseiter, der sich seiner Umwelt gleichzeitig überlegen fühlt, auch bei mir erwies. Es war ein Bild, in dem ich mich in meinen Teenagerjahren sehr zu Hause fühlte, auch wenn so vieles von außen dagegen sprach, und dass ich sicher noch bis weit in meine 20er für mich selbst in Anspruch genommen habe. Sicher auch, weil es im Zweifelsfall eine perfekte Passung zu den universellen Gefühlen dieser Zeit im Leben, von “verloren” bis “unverstanden”, bot.

Marktreife

Ich muss dabei immer an die weitreichende Kritik an “Nerdkultur” denken, die rund 20 Jahre später von Menschen wie Michael Seemann formuliert wurde. Denn natürlich besteht darin das zweite Kapitel meiner spezifischen Geburtenkohorte. Parallel zum Coming of Age von mir und den Jugendlichen um mich herum, wurde auch die vermeintliche Außenseiterkultur zunehmend zum Mainstream. Streng genommen begann diese Entwicklung schon in meiner Kindheit. Viele der kulturellen Produkte, die ich noch als “nischig” wahrgenommen habe, wurden bereits auf dem Massenmarkt ausgetestet. Das Schwarze Auge etwa wurde mit großem Marketing-Tamtam von Schmidt Spiele vertrieben. Superhelden-Comics durchlebten in den 90ern eine gigantische Spekulations-Blase.

Doch die große Wende kam in meinen Augen um die Jahrtausendwende. Während ich “echte” Fantasy-Filme als 12-Jähriger noch mühsam zwischen Ray Harryhausen und Ridley Scotts Legend im Osterprogramm der Privatsender suchen musste, sorgte die Marktreife von CGI-Technologie am Ende der 90er Jahre dafür, dass viele Nerd-Urtexte für den Mainstream verfilmt wurden. Es begann mit den X-Men-Filmen und The Matrix, der entscheidende Moment für mich aber war Peter Jacksons Lord of the Rings-Trilogie ab 2001, mit der mein persönlicher Nerd-Kosmos plötzlich für alle lebendig wurde. Ich konnte ihn zum Beispiel mit meinen Eltern teilen. The Return of the King gewann so viele Oscars wie Titanic oder Ben Hur. Fünf Jahre später startete das MCU und schleifte uns gemeinschaftlich in eine Welt, in der scheinbar jeder große Blockbuster auf einer Vorlage basiert, die zwanzig bis vierzig Jahre zuvor noch als genauso nerdig galt wie Hornbrillen und Karohemden. 

Ich muss irgendwann eingesehen haben, dass ich eigentlich nicht wirklich ein Nerd war, auch wenn ich mich oft so fühlte. Deswegen bin ich zu gegebener Zeit zur Selbstbezeichnung “Geek” umgeschwenkt, die weniger nach programmierten Taschenrechnern und Hosenträgern roch, und mehr nach popkulturellem Spezialwissen und extrovertierten kulturellen Kapital schmeckte. Geeks würden auch niemals als Hauptdarsteller in der romantischen Komödie des Lebens gecastet werden, aber ihre Macht war vielleicht sogar eine größere: Sie hatten höchstwahrscheinlich das Drehbuch dazu geschrieben.

Über den toxischen Umschlag der Nerds im Zeitalter ihrer kulturellen Dominanz ist viel geschrieben und produziert worden, sowohl im Rahmen von Ereignissen wie Gamergate, als auch mit Blick auf die Entwicklung der Techbranche, in der die Nerds plötzlich auch wirtschaftlich die Weltherrschaft übernahmen und dem Rest der Welt ihre eigene Sicht auf soziale Beziehungen überstülpten. So zumindest die gängige Erzählung in Filmen wie The Social Network. Dass die Entwicklung der “Manosphere”, die jetzt sogar irgendwie Teil von Donald Trumps MAGA-Bewegung ist, auch damit zusammenhängt, lässt sich argumentieren. Das alles hat mich immer irgendwie traurig und wütend gemacht, aber ich fühlte mich gleichzeitig innerlich immer weit genug davon entfernt, um mich als Teil der agierenden Gruppe zu begreifen.

Die obersten Geeks

Viel mehr erschüttert hat mich über die letzten Jahre, dass sich immer wieder zeigte, dass auch die obersten Geeks, also der sozial und kulturell vermeintlich kompetenteren Nerds, nicht in der Lage sind, ihr einstmaliges Außenseitertum (ob wahrgenommen oder real) nach ihrem Siegeszug in dauerhafte Reflexion und Empathie umzumünzen. Als prominentes weibliches Beispiel sticht Joanne K. Rowling hervor, die einen Romanzyklus über einen gepiesackten Jungen geschrieben hat, der anders ist als alle anderen, und die sich lange als “Ally” von queeren Menschen inszeniert hat, nur um in einen grauenhaften Kreuzzug gegen Trans Personen abzurutschen, die zu den sozial verwundbarsten Mitgliedern der Gesellschaft gehören.

Viel näher aber sind mir natürlich die Geschichten der Männer. Als ans Licht kam, dass Joss Whedon, vermeintlicher Vorkämpfer des Feminismus und ultrareflektierter Geschichten-Erklärer, quasi sofort nach seinem Erfolg zum missbräuchlichen Arschloch insbesondere gegenüber Kolleginnen mutierte, ist in mir schon ein bisschen Glaube an die Menschheit gestorben, auch wenn ich nie ein Anhänger des “Cult of Whedon” war, weil er mir immer schon ein bisschen zu glatt erschien. Aber zumindest erschien er mir einer von “den Guten” zu sein, ebenso wie Neil Gaiman, den ich zwar immer für literarisch überschätzt hielt, aber als kulturelle Identifikationsfigur eines nahbaren Autors durchaus wertvoll fand. Dass er mutmaßlich über Jahrzehnte seine kulturelle Macht genutzt hat, um Frauen Gewalt anzutun, überrascht mich nicht mehr wirklich, aber es stimmt mich doch sehr trübsinnig. Die Vorwürfe gegen jemand wie Chris Hardwick, den Gründer einer Website namens “Nerdist”, wurden zwar nie juristisch bestätigt, aber sie würden ins gleiche Muster passen. Genau wie die gegen Jonah Hill.

Ich ertrage sie schlicht nicht mehr, diese Geschichten vom vermeintlichen Außenseitertum missverstandener Teenager, die aber in sich eine Gabe tragen, die die Außenwelt nur noch nicht wahrhaben will, sei es überragende Intelligenz oder kulturelle Brillanz. Gerade weil ich mich als Teenager selbst damit identifiziert habe und sie auch in der auf mich zugeschnittenen Nerdkultur gespiegelt bekommen habe. 

Und obwohl dieser ganze Komplex natürlich sehr alt ist (siehe auch Nanette), ertrage ich sie ganz besonders nicht mehr in diesem kulturellen Moment, in dem die Nerds und Geeks meiner Generation eigentlich gewonnen haben, weil ihre Nischenkultur zur Massenkultur geworden ist. In der gleichzeitig “mental health” so prominent ist wie nie – die Werkzeuge, um aus den eigenen Erfahrungen zu lernen, also scheinbar bereitliegen, insbesondere für Menschen, die Geld genug haben, um sie zu bezahlen. Wahrscheinlich zeigt sich darin nur mal wieder, dass Macht korrumpiert. Auch oder gerade die, die sich selbst zuvor als machtlos empfunden haben.

Keine Monokultur

Das Gute ist, dass Nerdkultur keine Monokultur ist – auch wenn sie sich in meiner Kindheit noch so angefühlt hat. Innerhalb der Nerdszene, immerhin, habe ich das Gefühl, dass die Deutungshoheit beanspruchenden Nerds meiner Generation leiser werden, zugunsten eines sehr diversen Feldes von phantastischer Literatur und Kultur, die gerade dadurch ermöglicht wurde, dass die Monokultur in den Mainstream abgewandert ist. Und eine Biografie wie meine zeigt hoffentlich, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, die Selbstidentifikation als Nerd auszugestalten. Und deswegen kann ich zum Glück trotzdem meinen 42. Geburtstag als stolzen Nerdgeburtstag feiern. 

Douglas Adams, zumindest, scheint bis zu seinem viel zu frühen Tod, nach allem was man weiß, ein ziemlich netter Mensch gewesen zu sein. Adams starb übrigens im Mai 2001, also zufällig kurz vor dem von mir wahrgenommenen Kipppunkt der Phantastik im Mainstream. Die große (und nicht sehr erfolgreiche) Verfilmung seines eigenen Romans hat er nicht mehr erlebt.

Lieblingsfilme 2024

Mich beschleicht das Gefühl, dass Film eine immer geringere Rolle in meinem Leben einnimmt. Klar, ich würde immer noch jederzeit einen guten Film einer mittelmäßigen Serie vorziehen. Aber meine berufliche Hinwendung zu Fernsehen und Podcasts, und einfach die Zeitsituation in unserer Familie, machen es immer schwieriger, dem Medium die Aufmerksamkeit zu widmen, die es verdienen würde.

Insbesondere das Zuhause-Nachholen von Filmen, die ich im Kino verpasst habe, ist schwierig geworden. Mein Kind schläft inzwischen so spät ein, dass meistens gerade noch Zeit für eine Serienfolge bleibt, wenn ich meine 7,5 Stunden Schlaf bekommen will. Es ist aber noch nicht alt genug, um viele Filme mit ihm zu gucken, und wenn doch, guckt es am liebsten die gleichen Filme immer wieder.

Letterboxd zeigt mir für dieses Jahr 44 eingetragene Filme. Das sind weniger als letztes Jahr (51), aber mehr als in allen Jahren davor seit Geburt meines Kindes (zwischen 22 und 40). Ich war satte 29 Mal im Kino. Also vielleicht ist meine Gefühls-Beschleichung doch ein Trugschluss, und ich habe mich eigentlich auf einem ganz guten Niveau eingepegelt, dass mir einfach im Vergleich zu meinen besten Filmjahren immer noch mager vorkommt.

Trotzdem ist diese Liste natürlich, wie immer, mit entsprechender Vorsicht zu genießen, da sie eben doch aus einem nicht so tiefen Brunnen schöpft. Verpasst habe ich unter anderem The Wild Robot, Perfect Days, Emilia Perez, Konklave, The Substance, Inside Out 2, May December und La Chimera. Ein paar Filme gab es auch, die bei vielen Kritiker:innen beliebt waren, mich aber nicht begeistern konnten, darunter The Zone of Interest und Poor Things.

Was soll ich sagen? Ich kann mit einer etwas ausufernden Endzeit-Saga anscheinend doch mehr anfangen als mit einem manierierten Lehrstück zur Aussage “Nazis waren kleinbürgerlich”. Alle meine Wertungen kann man auf meiner Letterboxd-Statistik-Seite für 2024 nachschauen.

Challengers hat mich begeistert, weil er so offensiv ist. Sport als Metapher für Sex, das ist nichts Neues, aber das clevere Drehbuch passt wie die Faust aufs Auge zu Luca Guadagnino. Wenn dazu noch die aktuell vielleicht schönste Frau der Welt und mein nicht so heimlicher Celebrity Crush Mike Faist mitspielen, hat man mich einfach. Der Junge und der Reiher hat mich ganz stark an Bücher aus meiner Kindheit erinnert, in denen Kinder in Anderswelten reisen, von Joan Aiken über Michael Ende bis Die Brüder Löwenherz, und war allein deswegen ein bewegendes Kinoerlebnis. An Furiosa mochte ich das auswuchernde Worldbuilding, an Love Lies Bleeding die Körperlichkeit. The Bikeriders fand ich ein unterschätztes Dokument über Männlichkeit und Zeitgeist.

Wicked ist ein Film mit vielen Schwächen – nicht zuletzt, dass er das Musical mit seinem papierdünnen Plot viel zu treu adaptiert, statt etwas Eigenständiges und Filmisches zu schaffen. Aber die Begeisterung, die ich dafür dieses Jahr mit meinem Kind teilen konnte, und die starke Präsenz der beiden Hauptdarstellerinnen (ich bin insbesondere Fan von Ariana Grandes marionettenhafter Glinda) haben ihn für mich trotzdem zu etwas Besonderem gemacht, und ich werde ihn sicher noch diverse Male sehen.

Das war es an Gedanken. Hier (oder hier) ist die Liste.

  1. Challengers
  2. Der Junge und der Reiher
  3. Furiosa: A Mad Max Saga
  4. Love Lies Bleeding
  5. The Bikeriders
  6. Wicked
  7. Dune: Part II
  8. The Outrun
  9. All of Us Strangers
  10. Dídí

Bild: Amazon

Vom Podcast gelernt: Die Marienhof-Connection

Denise Fernholz, die inzwischen den tollen Podcast-Newsletter “Beifahrersitz” schreibt (für mich unerlässlich zur Übersicht über Neuerscheinungen und als Selbsthilfe-Support), hat für den “Mixdown”-Newsletter der Podstars vor ein paar Jahren die Kolumne “Vom Podcast gelernt” redaktionell betreut. Eines der wenigen Formate, in dem Podcaster:innen ehrlich von ihren Prozessen und Inspirationen berichten. Letztes Jahr, als ich zum ersten Mal ein größeres Podcastprojekt (“X-Base”) im Rahmen von LÄUFT hinter mich gebracht hatte, habe ich mir daran ein Beispiel genommen, und zum ersten Mal meinen Weg dorthin und meine gewonnenen Erkenntnisse aufgeschrieben. Vor einer Woche erschien mit “Die Marienhof-Connection” erneut ein Format außer der Reihe im Feed von LÄUFT, über dessen Genese ich hier berichten will. Vieles von dem, was ich aufschreibe, dürfte für andere Podcaster:innen Routine sein, aber ich glaube, dass man vom offenen Teilen von Erfahrungen immer profitieren kann, so wie ich von Denise’ Erfahrungen aus ihrem Newsletter profitiere.

Inspiration und Recherche

  • Der Ursprung der “Marienhof-Connection” liegt vermutlich in meinem Interview mit Khesrau Behroz vom Juli. Einerseits, weil ich danach – es ging um “Judging Amanda Knox – verstärkt über Drehs zum Thema “True Crime” in meinem Podcastfeld Medienjournalismus nachgedacht habe. Ich habe an anderer Stelle öfter kritisiert, dass gefühlt jedes journalistische Ressort, vom Feuilleton bis Wissenschaft auf den True-Crime-Boom aufspringt, aber es bleibt ja eine Tatsache, dass viele Ereignisse, in denen Verbrechen und ihre Aufklärung im Zentrum stehen, gute Geschichten ergeben..
  • Das war die andere Inspiration, die ich aus dem Gespräch mit Khesrau mitgenommen habe: Er hat im Interview gesagt, dass er nicht nach Themen, sondern nach Geschichten sucht. Das hat mich dazu getrieben, ebenfalls nach einer medialen Geschichte zu suchen, die ich am Ende des Jahres in einer Spezialfolge erzählen könnte.
  • Eines Abends im Bett (wirklich!) fiel mir die Geschichte von Volker Lilienthals Marienhof-Recherche bei epd medien wieder ein. Als ich 2009-2010 bei epd medien gearbeitet habe, war Lilienthal noch verantwortlicher Redakteur. Die Erinnerung an die Recherche war noch frisch, aber sie war bereits zu einer Art Legende geworden. Dieser Aspekt interessierte mich.
  • Für die Folgen zu X-Base hatte ich das Format der Oral History ausgekundschaftet, in der viele verschiedene Stimmen gemeinsam die Historie eines Ereignisses erzählen und sich aus dem so entstehenden Chor ein Ablauf formt. Die Lilienthal-Recherche hatte den zusätzlichen Vorteil, dass sie das exakte Gegenteil schien: eine Geschichte, die ich aus einem langen Interview heraus erzählen konnte. Mir war aufgefallen, dass auch Podcasts wie Search Engine manchmal diesen Modus einschlagen, wenn sie etwas weniger Aufwändiges produzieren wollen. Sie lassen einen Experten/eine Expertin die Story ihrer Recherche erzählen, und der Host überbrückt die Interviewpassagen mit Zusammenfassungen, Kontext und Meinung.
  • Bei der Vorab-Recherche half mir, außer dem epd-Archiv, vor allem ein verschriftlichter ZAPP-Beitrag von 2005, der die Chronologie der Geschichte bereits ziemlich gut aufdröselte. Er erlaubte mir bereits vor dem Interview mit Volker Lilienthal, eine gute Vorstellung davon zu gewinnen, wonach ich ihn fragen muss, wenn ich alle Wegmarken der Geschichte passieren will. Auf einem Miro-Board konnte ich so bereits eine vorläufige Dramaturgie der Story skizzieren, wie sie in zwei Podcast-Folgen passen könnte (siehe Bild). Jede Folge sollte dabei Szenen, Wendepunkte und Momente der Reflexion enthalten, denn ich fand immer, dass einer der Schwachpunkte meiner “X-Base”-Story der Mangel an greifbaren Szenen gewesen war.
Meine ursprüngliches dramaturgisches Gerüst
  • An dieser Stelle kamen mir auch die ersten Ideen, wie ich die Geschichte für Audio aufbereiten konnte und welche ihrer Aspekte ich in der damaligen Zeit unterberichtet fand – vor allem, wie genau die Recherche und die juristische Auseinandersetzung ablief. Dabei schälte sich für mich auch heraus, dass es keine “True Crime”-Story war, auch wenn illegale Taten ihr Auslöser waren, sondern eine “True Journalism”-Story im Stil von All the President’s Men, Spotlight oder She Said. (Eine Referenz an diese Szene aus She Said hatte ich eine Weile im Skript stehen, hab sie aber irgendwann rausgenommen.)

Materialsammlung

  • Ich habe verschiedene Szenarien durchgespielt, wie ich das zentrale Interview am besten führen kann. Mir war wichtig, dass wir genug Zeit haben und uns in die Augen gucken können. Nach einigen Absprachen auch mit Volker, entschied ich mich, Christian Conradi zu fragen, ob ich sein frisch eröffnetes Studio in Tempelhof mieten könnte, was er glücklicherweise bejahte.
  • Volker war bereits vor dem Interview höchst freigiebig damit, Recherchematerialien von damals mit mir zu teilen. Er schickte mir vor allem eine Reihe von echten Marienhof-Clips, die mir eine Vorstellung davon vermittelten, wie die Schleichwerbe-Platzierungen ausgesehen hatten. Das half enorm beim Interview.
  • Bei einigen Fragen, die mich besonders interessiert hatten, lief das Interview unerwartet auf Grund. Volker hatte wenig dazu zu sagen, wie er sich auf seine “Rolle” vorbereitet oder wie er auf den Namen seines Alter Ego Matthias Bergkamp gekommen war. Noch wichtiger: Er konnte und wollte nicht mehr darüber urteilen, wie sich das Thema seiner Recherche nach seinem Artikel weiterentwickelt hat. 
  • Damit war mein geplantes Ende, das auch die Redaktion vorgeschlagen hatte – den Bogen ins Jetzt schlagen, über Influencer und Produktplatzierung heute zu sprechen (aktuelle Relevanz, auch ein Aspekt, der in “X-Base” zu kurz gekommen war) – plötzlich sehr dünn, und ich wusste, dass ich eine andere Lösung würde finden müssen.
  • Bei “X-Base” hatte ich zur Veredelung des Endprodukts einige Leute um Gefallen gebeten, unter anderem einen Bekannten, der instrumentale Musik macht. Ganz ohne Gefallen ging es auch diesmal nicht: Ich hatte das Podcast-Duo Raphaël Vogt und Kati Bork über eine Freundin meines Kindes kennengelernt und erst spät kapiert, dass sie beide Schauspieler:innen sind. Dass sie mir einfach aus Freundlichkeit die Passagen aus dem Video eingesprochen haben, rechne ich ihnen hoch an. Dass Raphaël früher selbst in einigen Vorabend-Serien mitgespielt hat, ist ein ironischer Zufall, auf dem ich aber nicht rumreiten wollte.

Schreiben und Produzieren

  • Der eigentliche Schreib- und Produktionsprozess lief dann tatsächlich erstaunlich gut, auch wenn ich – wie erwartet – natürlich nicht mit den sonst typischen zwei Tagen pro Folge LÄUFT reichte. Ich habe viele Abende und Zugfahrten mit Schreiben und Schneiden verbracht, insgesamt stecken vermutlich rund acht bis zehn volle Arbeitstage in den zwei Folgen. Am meisten belastet mich in diesen Situationen immer mein Hang zur “Präkrastination” – Dinge, die in meinem Kopf bereits existieren, lassen mir keine Ruhe, bis ich sie umgesetzt habe, was für mein Umfeld manchmal ziemlich anstrengend sein kann.
  • Die Kritiken, die ich im Lauf des letzten Jahres für LÄUFT geschrieben und produziert hatte, waren eine gute Übung, um eine klare und eigene Narrations-Stimme zu entwickeln. Bei „X-Base“ hatte ich noch versucht, sehr neutral zu klingen. 
  • Ein Element der Dramaturgie, das mir erst beim Schreiben auffiel, aber für den Podcast sehr wichtig wurde, ist, wie sehr die Marienhof-Recherche eine Geschichte über retardierende Momente ist. Es gibt mehrere Punkte innerhalb der fast drei Jahre, in denen die Recherche stattfindet, in denen man eigentlich erwarten würde, dass nun ein Artikel erscheint – nach dem Videoband, nach der Undercover-Mission, nach dem Gerichtsurteil. Dass sich Lilienthal jedes Mal entschließt, erst noch einer weiteren Spur nachzugehen, ist ein entscheidender Faktor dafür, dass die Geschichte spannend bleibt.
  • Anders als beim letzten Mal habe ich diesmal meine Töne nicht von Anfang an in einem Projekt sortiert, sondern hatte in Reaper einzelne Projekte für Interviews und Ausschnitte, die ich dort vorgeschnitten und am Ende ins Masterprojekt mit der Narration einkopiert habe. Das hat bei der Übersicht sehr geholfen!
  • LÄUFT ist in vielerlei Hinsicht eine Ein-Personen-Show. Ich habe keine Producer:innen, Regisseur:innen oder Toningenieur:innen, die mir beim Zusammensetzen der Folgen helfen. Was aber auch diesmal wieder Gold wert war, war die Redaktion von Lars Gräßer und Michael Ridder. Insbesondere Michael, der ja selbst seit fast 20 Jahren bei epd medien arbeitet und Volker ebenfalls kennt, hat in seinen Abnahmen des Skripts und des Podcasts sehr genau hingeguckt, Ungereheimtheiten entdeckt und viele meiner eigenen Schwächen ausgeglichen. 
  • Hier war eine zentrale Erkenntnis, dass Erinnerungen an 20 Jahre zurückliegende Ereignisse öfter trügen können. Volker konnte sich vor allem an die zeitliche Abfolge seiner Recherche nicht immer im Detail erinnern (was ich ihm auf keinen Fall vorwerfe) und Michael hat mich darin bestärkt, bei einigen Dingen noch einmal nachzufragen, was zu mehreren notwendigen Präzisierungen im finalen Podcast geführt hat.
  • Mit Michael habe ich auch sehr genau durchgesprochen, welche Personen namentlich im Podcast vorkommen müssen. Bei einigen haben wir uns schließlich dagegen entschieden, da ihre Namen für die größere Geschichte nicht relevant sind.
  • Aus der Redaktion kam schließlich auch die rettende Idee für das zusätzliche Interview mit Cornelia Holsten, die als Medienwächterin einen guten Überblick liefern und das Thema in die Gegenwart transportieren konnte. Die Notwendigkeit dafür, die Geschichte nicht mit dem Nachspiel der Recherche enden zu lassen, hatte mir auch der Podcast zu KINO.TO von Studio Soma noch einmal deutlich aufgezeigt. 
  • Ein Bonus für mich war, dass dadurch im Podcast zusätzlich nicht nur männliche Stimmen zu hören sind. Cornelia Holsten ist übrigens eine fantastische Interviewpartnerin, und ich bin sehr glücklich, sie im Podcast zu haben.
  • Auf der “So Many Voices”-Podcastkonferenz im November bekam ich in einem Workshop des BR Story Lab noch einmal einige meiner eigenen Überlegungen zu Dramaturgie bestätigt und präzisiert. Einen der zentralen Sätze relativ am Anfang des Podcasts habe ich danach noch einmal umgeschrieben.
  • Für die Musik wollte ich diesmal mit einer professionellen Podcast-Musiklibrary arbeiten und meine Wahl fiel schnell auf Blue Dot Sessions, die vor etwa zehn Jahren der Go-To-Place für viele US-Produktionen war. Als besonders hilfreich empfand ich das Feature, die Musikauswahl nach Stimmungen und Instrumentation zu filtern und von jedem Stück auch die Stems, also die einzelnen Spuren, nutzen zu können. An diversen Stellen im Podcast konnte ich so Elemente vorheriger Musik zurückbringen, ohne den gesamten Track nutzen zu müssen. Das Auswählen und Schneiden der Musik war eine Herausforderung aber auch gleichzeitig eine große Freude, bei der mir ehrlich gesagt auch mein jahrelanges Spielen in Bands (als Schlagzeuger) sehr half.

Veröffentlichung und Bilanz

  • Für den Release kam ich schnell auf die Idee, die zwei Folgen diesmal nicht im Abstand von zwei Wochen zu veröffentlichen, sondern relativ dicht hintereinander, damit die ganze Geschichte schnell in der Welt sein würde und als Ganzes beworben werden könnte. Das halte ich auch jetzt noch für die richtige Entscheidung.
  • Christian hatte in seinem Podcast-Studio auch Video mitgeschnitten, so dass ich erstmals Video-Clips für die Bewerbung des Podcasts einsetzen konnte. Ich habe allerdings nicht das Gefühl, dass sie besonders geholfen haben. Auf jeden Fall weniger als die Empfehlungen von einigen Leuten aus meinem Netzwerk und von Volker selbst.
  • Ich bin sehr stolz auf “Die Marienhof-Connection”. Ich glaube, dass sie im Vergleich zu “X-Base” ein großer Schritt nach vorne für mich ist, sowohl von den Workflows, als auch von der Qualität des Erzählens. Das habe ich auch an den Reaktionen von Leuten bemerkt, die nicht in der Medien-Bubble stecken und denen die Story somit vorher gar nichts sagte. 
  • Frei nach dem Motto “die Regeln erstmal befolgen, bevor man sie bricht”, habe ich “Die Marienhof-Connection” ziemlich nach Lehrbuch erzählt und war mir auch für einige eventuell etwas abgegriffene Standards nicht zu schade. Ich musste also ein bisschen lachen, als erst Jens Thiele in seinem Newsletter schrieb, dass er keine Anfänge mehr hören möchte, die mit einer datierten Szene beginnen (wie bei mir) und dann Sandro und Carina Schroeder im Ohrensessel die Foreshadowing-Phrase “das wird später noch wichtig” verabschiedeten (die ich ebenfalls benutze).
  • Anfang Dezember habe ich mehrere Leute gebeten, mich im nächsten Sommer daran zu erinnern, dass ich 2025 kein großes Jahresendsprojekt machen will, um nicht wieder in einer ohnehin stressigen Zeit des Jahres noch gestresster zu sein. Mal schauen, ob ich mich daran halte.
  • Wenn ich dennoch noch einmal eine größere produzierte Story dieser Art herstellen wollen würde, wäre der nächste Schritt für mich auf jeden Fall, etwas zu machen, in dem Reportageelemente vor Ort eine zentrale Rolle spielen. Damit meine ich nicht das inzwischen übliche Einbauen von Prä-Interview-Geplänkel, sondern wirklich Szenen, bei denen es entscheidend ist, dass ich mit meinem Mikrofon am Ort des Geschehens bin. Das ist ein Muskel, den ich gerne mal trainieren würde, und es würde auch helfen mal etwas zu machen, was nicht “nur” zurückblickt. Außerdem wäre es gut, das nächste Mal eine Geschichte zu erzählen, in der eine Frau (oder nonbinäre Person) im Mittelpunkt steht.

Ich bin nach wie vor dankbar für direktes Feedback zur “Marienhof-Connection”. Hier in die Kommentare oder per E-Mail.

Playlist 2024 (und noch mehr Gedanken zu Empfehlungsalgorithmen)

Ich denke immer noch über den Algorithmus nach. Also, über das, was ich im September zum Entdecken neuer Musik geschrieben habe. Deswegen habe ich bei meiner diesjährigen Jahresplaylist mal geschaut, wie die 31 Lieder darauf eigentlich ihren Weg zu mir gefunden haben.

Und siehe da: für ganze sieben Tracks ist alleine der Algorithmus verantwortlich. Also: Das sind Songs und Künstler, von denen ich noch nie gehört hatte, bevor sie mir von Apple Music vorgeschlagen wurden. Darunter ist auch mein Lieblingssong des Jahres, “Wall St.” von Boys Go To Jupiter, einer saucoolen queer-forward New Yorker Band, von der ich dringend hoffe, dass sie bald berühmt genug sind, um auf Europatour zu gehen – vielleicht, wenn ihr erstes Album fertig ist. Außerdem mein zweiter Lieblingstrack des Jahres, “Echoes” vom Berliner DJ Redshapewie bereits erwähnt taste ich mich dank PJ Vogt seit Mitte des Jahres langsam wieder an elektronische Musik heran und der Algo hat mir sehr dabei geholfen, auszusortieren, was mir gefällt und was nicht.

Seit Jahren unverändert

Von insgesamt zehn Songs habe ich allerdings auch durch klassischen Musikjournalismus erfahren. In meinem Fall sind das (seit Jahren unverändert) die Podcasts All Songs Considered von NPR, Song Exploder und Switched On Pop von Vox. Dort erfahre ich nicht nur von aktuellen Pop-Trends, die sich manchmal auch nur durch ihre reine Zeitgeist-Penetranz in mein Herz fressen (“Girl, so confusing”). Sondern ich entdecke auch einfach immer wieder neue Künstler:innen innerhalb (Bad Moves, Lainey Wilson) und außerhalb (Carlos Arres, Tyla) meines typischen musikalischen Horizonts.

Und genau aus diesem Vorgang speist sich die dritte Herkunfts-Kategorie dieser Liste: Zwölf Songs stammen schlicht von Künstler:innen, die ich schon kannte, und die 2024 neues Material veröffentlicht haben. Darunter solche, denen ich schon lange folge, wie Everything Everything und Gavin Castleton (der sich dieses Jahr sehr überraschend und erfreulich nach langer Zeit zurückmeldet hat). Aber auch solche, die ich vor ein paar Jahren über einen der ersten beiden Wege entdeckt habe, zum Beispiel Another Sky (fantastisches neues Album Beach Day) oder Hippo Campus (die mir erstaunlich gut dieses Frühe-2000er Indiepop/Garden State Soundtrack Gefühl zurückgeben).

Ein goldener Schnitt

Wenn man also ein bisschen Plusminus zulässt – natürlich kenne ich Billy Joel, aber hätte ich ohne meine Podcasts von seinem neuen Song erfahren? John Mark Nelsons viertes Album vor neun Jahren fand ich gut, aber ohne den Algo hätte ich nicht mitbekommen, dass er eine 70er-Softrock EP veröffentlich hat  – sind wir also für eine solche Liste bei jeweils einem groben Drittel aus Bekanntem, Gelerntem und algorithmisch Empfohlenen. Es scheint quasi eine Art goldenen Schnitt beim Umgang mit Empfehlungsalgorithmen zu geben (oder es ist Zufall).

Einen weiteren Song muss ich vor diesem Hintergrund noch hervorheben, denn dieses Jahr gesellt sich in dieser Liste erstmals eine neue Herkunftsform hinzu: Auf Tebeys Country-Coverversion von The Weeknds “Blinding Lights” bin ich durch Instagram Reels gestoßen (ich bin nach wie vor zu faul, meinen Tiktok-Algorithmus zu trainieren und Instagram kennt mich halt schon seit 12 Jahren). Das ist für mich neu, auch wenn ich natürlich weiß, dass es für viele Menschen inzwischen sogar die dominante Form der Musikentdeckung geworden ist. Für mich ist das nächste Äquivalent davon, dass man einen Song aufschnappt, der zufällig irgendwo im Radio läuft.

Beinahe transzendent

Ich habe es dieses Jahr auf drei Konzerte geschafft, auch wenn ich öfter wollte. Jacob Colliers fantastisches viertes “Djesse”-Album hatte mich das Jahr über begleitet, das Konzert hat mich dann aber ein bisschen weniger begeistert als (vielleicht überhypt) erwartet. Das intime Konzert von Emily King solo allerdings war eine beinahe transzendente Erfahrung und ich habe einen wunderschönen Song über Kinder und Väter mitgenommen, der sich ebenfalls in dieser Liste findet. 

Mit dem Eurovision Song Contest habe ich mich dieses Jahr (anders als 2023) nur am Rande beschäftigt, aber Kaleens “We will Rave” hat bei mir alle meine Eurodance-Knöpfe gedrückt. Und “Girl, so confusing” hat mich als vermutlich einziger Song dieses Jahr zuerst mit seiner Story gewonnen, bevor ich dann irgendwann auch musikalisch nachgegeben habe. Shoutout dafür an meine ehemalige Kulturindustrie-Kollegin Mihaela.

Die Liste mit ein paar ausgewählten Lieblingstextzeilen

  1. Super Sport – Room for Cream
  2. Boys Go To Jupiter – Wall St.

“Come on over. We’re at the part of this where you become my lover.”

  1. Redshape – Echoes
  2. Everything Everything – The Mad Stone
  3. Quiet Houses – What My Heart Is For
  4. Pouty – Bridge Burner
  5. Paramore – Burning Down the House
  6. Kacey Musgraves – Jade Green
  7. Billy Joel – Turn the Lights Back On
  8. Another Sky – Burn the Way
  9. Kaleen – We Will Rave
  10. Tyla – Safer
  11. Charli xcx & Lorde – Girl, so confusing featuring Lorde

“Let’s work it out on the remix.”

  1. Conan Gray – Lonely Dancers
  2. GIFT – Wish Me Away
  3. Emily King – Anyway I love you (Acoustic)
  4. Don’t Thank Me, Spank Me! – Dance
  5. Tebey – Blinding Lights (Country Version)
  6. Remi Wolf – Soup
  7. Hippo Campus – Tooth Fairy
  8. John Mark Nelson – Wishes
  9. Gavin Castleton – Layoffs

    “I take full responsibility. We may not agree on what that means.”
  10. fantasy of a broken heart – Ur Heart Stops
  11. Wunderhorse – Midas
  12. Carlos Arres – Cigarra
  13. Lainey Wilson – Hang Tight Honey
  14. Bad Moves – A Lapse In the Emptiness
  15. Beyoncé – Texas Hold ‘Em
  16. SOPHIE & Bibi Boureilly – Exhilirate
  17. Jacob Collier – Little Blue (feat. Brandi Carlile)

“Don’t be afraid of the dark. In your heart you’re gonna find a way to carry the weight of the world on your shoulders.”

  1. Beatenberg – Bath Towels

“I don’t know, she said, how you bear to live without flowers in your living room. It’s not so bad, I said. I see them, when I walk outside. Anyway, I get hay fever.”

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